Mindest-Fachkraftstunden versus Aufsichtspflicht
Ein wohl immer aktuelles Thema: Wie viel Erzieher:innen müssen eigentlich mindestens in der Gruppe sein, um die Aufsichtspflicht nicht zu verletzten und bei welcher Anzahl an z.B. erkrankten Erzieher:Innen muss eine Meldung an das Landesjugendamt erfolgen? Dürften Elterndienste fehlende Fachkräfte unterstützen?Das Thema ist komplex. Gemäß NRW-Personalvereinbarung hat sich der Personaleinsatz an den Beschreibungen der Gruppenformen in der Anlage zum Kinderbildungsgesetz zu orientieren. Als Mindestausstattung ist Personal für die Leitungsstunden je Gruppe nach § 29 Absatz 2 des Kinderbildungsgesetzes, die Mindestanzahl an Fachkraftstunden nach der Anlage und in der Gruppenform III eine Mindestanzahl an Ergänzungskraftstunden in gleicher Höhe wie die in der Anlage ausgewiesene Anzahl an Fachkraftstunden für diese Gruppenform vorzuhalten. Ist aufgrund der Struktur der Einrichtung eine kindbezogene Berechnung erforderlich, ergibt sich die Mindestbesetzung pro Kind aus den je Gruppe vorgesehenen Mindestpersonalstunden geteilt durch die Anzahl der Kinder der jeweiligen Gruppenform. Bei hoher Belegung der Einrichtung kann die entsprechende Anwendung der Überbelegungsmöglichkeiten des § 28 Absatz 2 Satz 2 des Kinderbildungsgesetzes vorübergehend zu einer entsprechend geringfügigen Absenkung der Orientierungswerte führen.
Sinken gemäß Personalstundenrechner die Gesamtpersonalfachkraftstunden unter die Mindestzahl, so muss in KiBiz.Web unmittelbar eine Meldung gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII erfolgen. Unter dem Reiter „Aufsicht“ findet sich das Modul „Besondere Vorkommnisse“. Über das „+“ in der Spalte „Aktionen“ kommt Ihr zu der Auswahl der Meldung.
Eine Aufteilung erfolgt wie bisher in
> „neue Personalausfallmeldung“ für alle personellen Engpasssituationen, bei denen das Minimum unterschritten wird und
> „neue Meldung“ für alle Vorkommnisse, die geeignet sind, das Kindeswohl zu beeinträchtigen.
In dem dann folgenden Formular sind die relevanten Daten bzw. Angaben einzutragen. Um hier eine Meldung einstellen zu können, benötigt man die passenden Zugriffsrechte. Die lassen sich (inzwischen auch differenzierter als bisher) im Bereich „Verwaltung > Accountverwaltung“ festlegen. Zuständig für solche Meldungen ist der Träger der Einrichtung, also der Vorstand. Die gleichfalls notwendige Meldung an das zuständige Jugendamt erfolgt durch das System automatisch. Zu den Meldungen gemäß § 47 gibt es eine Handreichung des LVR.
Die Mindeststundenzahl fußt auf der KiBiz-Grundlage. Es handelt sich bei der im Personalstundenrechner angegebenen Mindeststundenzahl (z. B. 99 Stunden bei Gruppenform Ic) um den Wert pro Woche im Jahresschnitt. Sie besagt nur, wie viel Personal mindestens in der Kita angestellt sein muss! Dass die dann zwischendurch auch mal Urlaub haben oder bei einer Fortbildung sind oder erkrankt, fällt bei der Betrachtung des Personalstundenrechners völlig unter den Tisch. Denn der Personalschlüssel ist ein rein statistischer Wert, nach dem errechnet wird, wie viel Personal in einer Kita eingestellt werden muss. Er sagt nichts darüber aus, wie viel Zeit ein/e Erzieher:in in der Kita für ein Kind hat. Zum Umgang mit Unterbesetzungen gibt es auch eine Handreichung des LVR. Diese legt auch dar, unter welchen Voraussetzungen Elterndienste Personalmangel abfedern können. (Hierzu später mehr)
Es geht also bei Krankheitswellen zumeist NICHT um die Nichteinhaltung des Mindestpersonalschlüssels gemäß Personalstundenrechner, sondern „nur“ darum, wie viel Personal noch da sein muss (und in welcher Qualifikation) um die reine Aufsichtspflicht zu gewährleisten!
Der Bundesgerichtshof hat hierzu entschieden, dass Art und Ausmaß der Aufsichtspflicht immer von den jeweils gegebenen Umständen abhängen, dass die Anforderungen an die sozialpädagogischen Fachkräfte nicht übertrieben sein dürfen und dass diese ihren Verstand zur Ermittlung der in der konkreten Situation notwendigen Aufsicht einsetzen müssen. Dabei seien sowohl die pädagogischen Ziele des Kindergartens als auch das Wohl der Kinder und Dritter zu berücksichtigen. Entscheidungsfaktoren gemäß Kindergartenpädagogik.de sind:
1) Das Alter der zu betreuenden Kinder. Jüngere Kinder benötigen mehr Aufsicht.
2) Die Person des jeweiligen Kindes: Wichtiger als das Alter sind der individuelle körperliche, kognitive, emotionale und soziale Entwicklungsstand des Kindes und dessen Verhalten.
3) Art der Tätigkeit bzw. Beschäftigung: Gefährlichere Spiele und Tätigkeiten benötigen mehr Beaufsichtigung.
4) Situative Faktoren: Ist die Kindergruppe besonders aufgedreht und aggressiv („Montagssyndrom“) oder bahnt sich gerade ein Streit zwischen mehreren Kindern an?
5) Räumliche und örtliche Gegebenheiten: Ein Mehr an Aufsicht ist nötig, wenn es in den Innen- oder Außenräumen des Kindergartens besondere Gefahrenquellen gibt. Dasselbe gilt für Ausflüge.
6) Person der Fachkraft: Die Fähigkeiten und Berufserfahrungen der Erzieher:innen sind zu berücksichtigen! „Beispielsweise darf eine Nichtschwimmerin nicht die Kinder bei einem Schwimmbadbesuch beaufsichtigen.“
7) Zumutbarkeit der an die Fachkraft gestellten Anforderungen: Von einer Berufsanfängerin darf nicht dasselbe verlangt werden wie von einer erfahrenen Fachkraft. Eine Erzieherin darf nicht überfordert werden, indem von ihr verlangt wird, auf Dauer eine zu große Gruppe oder in gefährlichen Situationen zu viele Kinder zu betreuen.
8) Gruppengröße: „Der haftungsrechtlichen Rechtsprechung und Praxis kann man keine generelle, einigermaßen definitive Antwort entnehmen. Nur zur Aufsicht bei Ausflügen, Wanderungen, Besichtigungen und anderen externen Unternehmungen hat sich die Relation zehn Kinder auf eine sozialpädagogische Fachkraft (beim Schimmbadbesuch auch zehn auf zwei) als einigermaßen gesicherte Richtzahl herausgebildet“ (Schmitt-Wenkebach 1994, S. 23). Mutmaßlich bezieht sich diese Anzahl aber auf Ü-3 Kinder. Auf jeden Fall sollte die Gruppengröße nicht auf Dauer gegen die jeweiligen Landesrichtlinien verstoßen. Generell ist es aber einer Fachkraft zumutbar, für kürzere oder längere Zeit die Kinder einer anderen Gruppe mitzubetreuen. Es wird dann von ihr erwartet, dass sie z.B. auf risikoreiche Aktivitäten verzichtet und rigoroser Aufsicht führt.“
Es können erkrankte Fachkräfte unter bestimmten Umständen durch Elterndienste ersetzt werden. Aber. Man kann nicht Fachkräfte in beliebiger Anzahl durch völlig ungelernte Kräfte ersetzen, da letztere viele Gefahrensituationen und auch die Kinder einfach nicht gut genug kennen und einschätzen können. Nach grober Einschätzung sollte je Gruppe noch mindestens eine Fachkraft zugegen sein, welche die Kinder bereits kennt (verstärkt um -je nach vorliegenden Faktoren- mindestens zwei Aushilfs-Personen PRO fehlender Erzieher:In). Und. Die Elterndienste können nicht „spontan“ unvorbereitet durch irgendwen erfolgen. Denn die Vorlage eines aktuellen „Erweiterten polizeilichen Führungszeugnisses“ ist vorgeschrieben. Hygieneschulungen und Nachweis des Masernschutzes müssen ebenso vorliegen. Diese Dinge können realistisch _nur_ im Vorfeld erworben werden und es müsste eine Art „Pool“ von Personen vorbereitet sein, die im Falle einer personellen Unterbesetzung zur Sicherstellung der Aufsichtspflicht angefragt werden können. Es darf sich aber immer nur um eine mögliche Maßnahme handeln und darf keine Grundsätzlichkeit darstellen. Jeder Einsatz muss zuvor beim Landesjugendamt beantragt werden. Die Beantragung kann formlos per Mail erfolgen und muss mit positiver Stellungnahme über das örtliche Jugendamt laufen. Der Antrag muss folgende Angaben enthalten: Name, Geburtsdatum, wie lange und mit wie vielen Stunden soll der Einsatz erfolgen, in welcher Gruppe (u3/ ü3) erfolgt der Einsatz, wie ist die personelle Situation bzw. wie viele Fachkräfte sind anwesend. Ein möglicher Antrag kann zudem nur gleichzeitig mit einer Meldung (personelle Unterbesetzung) nach §47 SGB XIII über Kibiz.web erfolgen. Klassisch wird diese Maßnahme genutzt, um die Betreuung bzw. Aufsicht auch in Randzeiten sicherzustellen. Zum Beispiel um das Außengelände oder die Abholsituationen mit zu beaufsichtigen. Einmalige Ausflüge, Waldtage oder besondere Aktionen können ohne vorherige Beantragung durch Elternteile begleitet werden. Hier sollte der Träger eigenverantwortlich die Entscheidung treffen.
Hieraus ergibt es sich auch, dass eine Meldung nach §47 SGB XIII auch dann erfolgen muss, wenn zwar „formal“ genug Personal eingestellt wurde, aber unter Berücksichtigung obiger Faktoren (Alter der Kinder usw.) oder Abwesenheit von Erzieher:innen trotzdem die Sicherstellung der Aufsichtspflicht nicht mehr gegeben scheint.